Deserteure der Wehrmacht

Die "Wehrmachtsausstellung" des Hamburger Instituts für Sozialforschung sorgte für eine kontroverse öffentliche Auseinandersetzung. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Darstellung und Diskussion über die Wehrmachtsdeserteure eine notwendige und sinnvolle Ergänzung. Die Desertion aus der Wehrmacht - so vielfältig wie sie motiviert war - zeigt persönliche Handlungsoptionen und Alternativen zum massenhaften "Mitmachen" und Morden in der Wehrmacht. Eine Projektgruppe der Geschichtswerkstatt Göttingen beschäftigte sich bis 2002 mit der Geschichte der Deserteure, den Auseinandersetzungen um ihre Rolle in der Bundesrepublik und die Darstellbarkeit dieser Geschichte durch eine Ausstellung.

Arbeitsgruppe: Deserteure der Wehrmacht

Ausgangspunkt und zentraler Bezugsrahmen für unsere Arbeit sind die Forschungsergebnisse, die im Rahmen der 'Wehrmachtsausstellung' des Hamburger Instituts für Sozialforschung in Deutschland Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden haben. Konstitutiv für die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Desertion ist für uns das Verständnis des Zweiten Weltkrieges als Vernichtungskrieg.

Nicht zuletzt der Mythos der 'sauberen Wehrmacht', der erstmals durch die 'Wehrmachtsausstellung' auch im öffentlichen Bewusstsein nachhaltig ins Wanken geriet, verhinderte bisher, dass jene Soldaten, die sich diesem Krieg widersetzten, zumindest vor dem Gesetz die längst überfällige Rehabilitation erfuhren. Erst seit Anfang der 90er Jahre versucht eine immer kleiner werdende Zahl ehemaliger Deserteure ihre juristische und politisch-moralische Rehabilitierung durchzusetzen. Dies wird bisher "erfolgreich" von der Koalition im Bundestag verhindert (auch das jüngst beschlossene Gesetz zur Aufhebung der NS-Justiz-Urteile ist keine befriedigende Lösung). Die Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz e.V. ist dabei nur eine Opfergruppe, die sich für ihre Rehabilitierung einsetzt. (mindestens 30.000 Todesurteile wurden bis Herbst 1944 gegen Deserteure vollstreckt).

Der Kampf um einen Platz der Deserteure im öffentlichen Gedenken setzte Ende der 70er ein. Auch in Göttingen gab es damals hitzige Diskussionen um ein geplantes Deserteurs-Denkmal. Es ist heute klein und unscheinbar in Form einer Gedenktafel an der Fassade des ehemaligen Gebäudes des Göttinger 82er Kavallerieregimentes am Hiroshimaplatz angebracht. Wir wollen mit unserer Ausstellung diese Opfer der NS-Militärjustiz in ihren Forderungen unterstützen.

Anders als in den zurückliegenden Jahren geht es uns allerdings nicht um einen Blick aus den luftigen Höhen der Ereignisgeschichte. Wir wollen keine Vermittlung der Geschichte von Widerstand, Verweigerung und Verfolgung mit einem objektivistischen Anspruch. Vielmehr stehen die Zeitzeugen selbst im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Perspektive derjenigen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, dem Vernichtungskrieg entzogen, ist für uns maßgeblich. Unter Beibehaltung dieser Perspektive interessieren uns auch die folgenden Fragen: Wie wurde der Militärstrafvollzug erlebt? Welche Rolle spielten Frauen, etwa als Ehefrauen, Geliebte, Schwestern, Mütter oder Freundinnen für Verweigerung, Desertion und Widerstand im Zweiten Weltkrieg? und auf der Zeitachse nach 1945: Wie erlebten die Deserteure die Nachkriegszeit? Welche gesellschaftlichen Positionen bekleideten die ehemaligen Wehrmachtsrichter in der Bundesrepublik, welche die bis heute als vorbestraft registrierten und als "Feiglinge" ausgegrenzten Männer und Frauen, die von der NS-Militärjustiz verurteilt wurden?

Wir wollen uns zudem mittels der gezeigten Biographien der Frage nähern, wo die Grenzen verlaufen zwischen Widerstand und Verweigerung auf der einen Seite und Übereinstimmung, Anpassung, Hinnehmen und Mitmachen auf der anderen. Es geht also darum, zu ergründen, inwiefern "eigensinnige" und nonkonforme Verhaltensweisen sich mit Formen des Gehorsams überlagerten oder ungleichzeitig verliefen. Für uns ist es wichtig, dass dabei die Handlungsmöglichkeiten und Spielräume sichtbar werden, die den damals Handelnden auch in Extremsituationen blieben und wie sie auf diese Weise in ihrem Wirkungsbereich historische Realität geschaffen und verändert haben. Es soll so ein komplexes Bild von Desertion jenseits von Heroisierung und Diffamierung entstehen, das Denkanstöße für eine Diskussion von Ungehorsam, Verweigerung und Widerstand im hier und jetzt geben kann.

Gestalterisch wollen wir den Akzent auf eine Vermittlungsebene legen, die mit möglichst wenig geschriebenen Text auskommt. Wir planen hierfür für eine Reihe von (gefilmten) Interviews mit Deserteuren der Wehrmacht, mit Filmmaterial, Photographien und anderen Dokumenten. Zudem sollen Diskussionsrunden u.a. mit ZeitzeugInnen im Rahmen der Ausstellung helfen von einem "enzyklopädischen", d.h. textlastigen Umgang mit Geschichte wegzukommen, der dazu beiträgt, die handelnden Menschen zu Objekten der Darstellung zu machen. Erste Kontakte zu ehemaligen Deserteuren haben wir aufgenommen und zudem eine Reihe von Vorrecherchen angestellt.