Mehr über Armut
Das Zahlenverhältnis von Frauen zu Männern war genau spiegelbildlich zur wohlhabenden Bevölkerung, bei der eine Überzahl von Männern zu bemerken war. Bei den Armen kamen - statistisch betrachtet - auf einen Mann 3,5 Frauen. Armut betraf also damals, wie auch heute noch zu beobachten ist, überwiegend Frauen. Dies mag unter anderem an den schlechteren Erwerbsmöglichkeiten für Frauen gelegen haben sowie an der hohen Zahl ledig Schwangerer, die - ebenso wie Witwen und arbeitslose Dienstmädchen - auf sich selbst gestellt waren und daher ein sehr geringes Auskommen hatten.
Die Siedlungsräume der Unterschicht befanden sich am Stadtrand, an der Stadtmauer oder für die Ärmsten der Armen auch außerhalb des Walls.
Zu den ärmlichsten Wohnbezirken gehörten die Turmstraße, nördliche Jüden- und Burgstraße, Ritterplan und Wendengasse. Die Turmstraße wurde “Stinkende Gasse” und “Klein Paris” genannt. Es ist zu vermuten, daß letzteres auf die Straßenprostitution (s.u.) zurückzuführen ist. Dort lebten überwiegend verarmte Frauen, Alte, Kranke, Invalide, Tagelöhner und Tagelöhnerinnen, Erwerbslose, Witwen.
Die Buden, in denen sie lebten, waren eng, baufällig und nicht wetterfest, so daß die Ausbreitung von Krankheiten und Seuchen begünstigt wurde.
Im 18. Jahrhundert hatte sich die diskriminierende Auffassung durchgesetzt, daß Armut selbstverschuldet sei, die Armen also faul seien und sich aus ihrer Notlage herausarbeiten könnten, wenn sie nur wollten. Staatliche Zwangsmaßnahmen waren die Folge. So wurde 1702 eine Armenverordnung erlassen, die in 44 Artikeln die Armut zu regulieren gedachte. Die Armen wurden in Klassen eingeteilt, denen zufolge sie Almosen erhielten. Ein Bettelverbot wurde erlassen, das ein Armenvoigt kontrollieren sollte. Als Dank für die nur sehr mangelhafte Versorgung durch die Stadt mußten die Armen halbjährlich ein Loblied singend durch die heutige Innenstadt ziehen. Zudem waren sie zum Tragen eines Abzeichens verpflichtet, das sie kenntlich machen sollte: SP (signum pauperum, lateinisch für Zeichen der Armut). Es gab in Göttingen zwar Schwierigkeiten, das Edikt durchzusetzen, doch um die Stadt als Universitätsstadt anziehender zu gestalten, bemühte man sich, es zu verwirklichen.
Der Frauenverein
Neben der staatlichen und der kirchlichen Maßnahmen gab es noch einen weiteren Versuch, die Armut zu lindern. Dieser wurde von Frauen der Oberschicht unternommen. Das bürgerliche Frauenbild sprach der Frau besondere Opferbereitschaft und Milde zu, daher erschien die Bedürftigenversorgung für verheiratete Frauen als ein mögliches Betätigungsfeld. 1840 gründete sich der Göttinger Frauenverein, was der Magistrat der Stadt zunächst begrüßte. Schon bald aber gab es Auseinandersetzungen über die Form der Armenfürsorge. Als die Frauen in Hannover Korporationsrechte (volle Geschäftsfähigkeit) für den Verein beantragten, behinderte die Stadt durch ein negatives Gutachten diese Bemühungen. 1850 erhielt der Verein als einer der ersten Frauenvereine dann doch die Korporationsrechte.
Der Göttinger Frauenverein unterhielt zehn Einrichtungen zur Armenunterstützung, so z.B. eine Dienstbotinnenschule, Kinderbewahranstalt und Handarbeitswerkstätten samt eigenem Laden, in dem die Produkte verkauft wurden. Armenfürsorge sollte nicht in Form von Almosen gewährt werden, vielmehr sollte den armen Frauen die Möglichkeit gegeben werden, sich durch Arbeit selbst zu helfen. Doch auch der Frauenverein konnte nicht alle Armen unterstützen. Viele mußten ohne fremde Hilfe für ihr Überleben sorgen. Für Frauen war eine Form der Selbsthilfe die Prostitution.
Prostitution
Die meisten Prostituierten waren ehemalige Dienstmädchen und Kellnerinnen, die teilweise vergewaltigt und mit einem unehelichen Kind aus der Stellung gejagt worden waren. Es gab allerdings auch Lohnarbeiterinnen, die sich mit dem Nebenerwerb der Prostitution am Leben erhielten. Die Zahl der registrierten Prostituierten in Göttingen war eher gering. Doch es ist davon auszugehen, daß die “illegale” Prostitution in “Klein Paris” sehr verbreitet war. Ein Bordell gab es in Göttingen nicht. Den Grund dafür, bzw. die Überflüssigkeit eines solchen, veranschaulicht folgendes Zitat eines durchreisenden Studenten:
“Ein Bordell wäre in Göttingen eher schädlich als nützlich. Wer würde es besuchen, solange es noch gefällige Aufwärterinnen giebt, die wohlfeiler und heimlicher zu haben sind, als die Mädchen in so einem Hause.”
Ab 1855 wurde die Prostitution staatlich reglementiert. Die Prostituierten wurden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. So durften sie nachts ihre Wohnungen nicht verlassen und einige Bereiche gar nicht erst betreten. In Göttingen waren das: die Wälle, (Korn)Markt, Groner Tor, Weender Straße, Maschwiese, Bahnhofsplatz etc., welches in der Regel sehr belebte Plätze waren. Die Prostituierten waren gesellschaftlich geächtet, während sexuelle Kontakte der Männer außerhalb der Ehe als Beweis ihrer Männlichkeit galten. Gerade im von der Universität geprägten Göttingen ist besonders interessant, daß bei einigen Studentenverbindungen der Besuch bei Prostituierten Teil eines Rituals, also üblich und damit anerkannt war!