Mehr über Dienstmädchen
Das Haus Rote Straße / Ecke Jüdenstraße haben wir als Beispiel für einen herrschaftlichen Haushalt des 19. Jahrhunderts ausgewählt. Daß darin nicht nur "Herrschaften" gewohnt haben, wird bereits an den beiden Eingängen des Hauses deutlich. Es gibt einen breiten Vordereingang und einen kleinen Eingang für Dienstpersonal und Lieferanten und Lieferantinnen. In die-sen Haushalten trafen also Menschen aus der Oberschicht und der Unterschicht aufeinander.
Funktion der Dienstbotinnen und Dienstboten
Die bürgerliche Gesellschaft des 19.Jahrhunderts war geprägt von einer Ideologie der getrennten und strikt festgelegten Geschlechterrollen. Seit der Aufklärung galten sie als "natürlich", und damit als unveränderbar. Wichtigstes Merkmal dieser hierarchischen Geschlechterrollen war die Aufteilung und Gegenüberstellung von zwei Lebensbereichen, Öffentlichkeit und Privatheit. Auf der einen Seite wurde der Mann gesehen, der in der Öffentlichkeit einem Beruf nachging und sich politisch betätigte, auf der anderen Seite die Frau, die in der privaten Sphäre, der Familie, blieb und dem Mann einen Ruhepunkt und ein gemütliches Zuhause schaffen sollte. Zu dieser idealtypischen "natürlichen" Rolle der Frau gehörte auch, daß sie nicht körperlich arbeiten sollte, denn Frauen wurden als das "schwache" Geschlecht angesehen. Dieses "Ideal" war jedoch nur für die Oberschicht gültig, die Frauen aus den unteren Schichten mußten für ihren Lebensun-terhalt meistens schwer körperlich arbeiten. Aber auch in den Oberschichtshaushalten fiel Arbeit an, die dort von Dienstmädchen verrichtet wurde. Einerseits galten Frauen der Oberschicht also als zu schwach zum Arbeiten, an-dererseits wurde selbstverständlich von den Dienstbotinnen schwere körperliche Arbeit erwartet.
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Dienstbotinnen konnten sehr unterschiedlich sein. Je nach Haushaltsgröße wurde nur ein "Mädchen für Alles" beschäftigt, oder es gab mehrere Haushaltsangestellte, z.B. eine Köchin und ein Kindermädchen. Dienstbotinnen waren auch ein Statussymbol und eine große Zahl erhöhte das soziale Ansehen ihrer Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Die Anzahl und Zusammensetzung der Dienstbotinnen bestimmte die tägliche Arbeit der einzelnen. Arbeitsbeginn war in der Regel zwischen 6 und 7 Uhr morgens. Vormittags anfallende Tätigkeiten waren das aufwendige Reinigen der Wohnung und speziell der Empfangsräume (Salons), im Winter mußten die Öfen gesäubert und angeheizt werden. Je nach Situation war es Aufgabe der Köchin oder des "Mädchens für Alles", einzukaufen und zu kochen. Nachmittags mußte die Küche geputzt und der Herd und der Fußboden geschrubbt werden. Die Metalltöpfe und das Tafelsilber wurden poliert. Einmal wöchentlich wurden alle Fußböden gebohnert und die Teppiche ausgeklopft. Einmal im Monat mußten die Polstermöbel und Vorhänge gebürstet und die Fenster geputzt werden. Alle zwei bis vier Wochen war "Waschtag", der sich meist über drei Tage erstreckte und dem ca. sieben Tage plätten folgten. Gab es kein extra angestelltes Kindermädchen, gehörte ferner die persönliche Betreuung der Kinder zu den Verpflichtungen des Dienstmädchens, d.h. diese waschen, anziehen, ihre Mahlzeiten zubereiten, sie beaufsichtigen. Der Arbeitsablauf des ganzen Tages war geprägt von ständigen Unterbrechungen
Die Dienstbotinnen stammten hauptsächlich aus den Dörfern der Umgebung Göttingens und aus der städtischen Unterschicht. Es waren junge Frauen zwischen 14 und 16 Jahren, die aufgrund der Armut und den fehlenden Verdienstmöglichkeiten für Frauen auf dem Lande in die Städte kamen. Sie hofften auf eine soziale und materielle Verbesserung ihrer Situation. "Dienstmädchen" war ein Übergangsberuf, 1907 waren rund 80% aller Dienstmädchen unter 30 Jahren, 36,7% waren jünger als 20 Jahre.
Dienstbotinnen erhielten einen geringen Jahreslohn in Form von Geld (zwischen 150 und 200 Reichsmark), den größten Teil ihrer Bezahlung bekamen sie als Kost und Logis. Die Unterbringung war meist sehr schlecht, nur wenige Dienstmädchen hatten ein eigenes Zimmer (in der Regel unbeheizt). Meistens bestand die "Logis" in einem Bett oder Klappbett auf dem (ebenfalls unbeheizten) Hängeboden. Der Lebensstandard von Dienstbotinnen war mit dem ungelernter Arbeiterinnen vergleichbar. Ein großer Unterschied zwischen Fabrikarbeiterinnen und Dienstmädchen bestand jedoch in der Form des Arbeitsverhältnisses. Dienstbotinnen standen in einem extrem hohen, persönlichen Abhängigkeitsverhältnis, das geprägt war von der Unterwerfung unter den Willen und die Willkür der "Herrschaft". Es gab weder eine räumliche noch eine zeitliche Rückzugsmöglichkeit, keinen Rechtsanspruch auf Pausen oder Freizeit. Dienstmädchen hatten eine grundsätzliche 24-Stunden-Arbeitsverpflichtung, die Bedienung bis spät in die Nacht, Sonderwünsche, Gästeempfang u.ä. beinhaltete. Selbst gewohnheitsrechtliche Vereinbarungen wie der 14tägliche freie Sonntagnachmittag konnten bei Bedarf jederzeit gebrochen werden.
Den Rahmen des Arbeitsverhältnisses bestimmten die "Gesindeordnungen", in denen Gehorsam, Treue und Pflichtbewußtsein der Frauen, nicht jedoch Arbeitszeiten, Bezahlung oder ähnliches festgelegt waren. Die Gesindeordnungen konstruierten damit den "Sozialcharakter" des Berufes. In ihnen war weiter vorgeschrieben, daß jeder Stellungswechsel bei der Polizei angegeben und dort abgestempelt werden mußte. Auch die rechtliche und soziale Absicherung von Dienstbotinnen war schlecht, es gab keine Alters- oder Verdienstausfallversicherungen, und erst 1914 wurden sie in die Krankenversicherung einbezogen.
Entscheidend für den Alltag war weiterhin die soziale Distanz zwischen der "Herrschaft" und dem Dienstmädchen, die häufig durch Schikane und Kontrolle aufrechterhalten bzw. verstärkt wurde. Gerade die Hausfrauen sicherten ihre eigene soziale Position, indem sie ihre Angestellten schikanierten und schlecht behandelten. Von Seiten der Hausherren und anderer im Haus lebender Männer waren Dienstbotinnen sexueller Ausbeutung und Belästigung bis hin zur Vergewaltigung ausgesetzt. Wurde eine Frau schwanger, gab es zwar die Möglichkeit der Abtreibung. Es wird für die Dienstmädchen, die aus ihren sozialen Zusammenhängen gerissen waren, jedoch schwierig gewesen sein, eine Frau zu finden, die ihnen dabei half. Sobald die Schwangerschaft entdeckt wurde, verlor sie in der Regel ihre Stellung und damit auch Unterkunft und Verpflegung. In Göttingen kamen 1792 22,3 % aller Kinder unehelich zur Welt, diese Zahl blieb im ganzen 19. Jahrhundert stabil und stieg 1905 sogar auf 27 % an. Damit hatte Göttingen eine der höchsten Unehelichen-Geburtenraten im Deutschen Reich. Es ist zu vermuten, daß sich unter den unehelichen Müttern sehr viele Dienstmädchen befanden. Ein Gesetz von 1793 besagte, daß Studenten nur dann Alimente zu zahlen brauchten, wenn die Klägerin eine "Verführung" eindeutig beweisen konnte.
Es stellt sich nun die Frage, wie Dienstmädchen diese Arbeitssituation ausgehalten bzw. wie sie sich dagegen zur Wehr gesetzt haben.
Es ist nicht bekannt, daß viele Frauen den Beruf gewechselt haben. Sie entwickelten Strategien, um sich innerhalb ihrer Situation gegen die Verhältnisse zu wehren. Dazu zählen heimliche Pausen und Trödeln beim Einkauf, Tratsch über die Privatsphäre ihrer "Herrschaften" und auch ein häufiger Stellenwechsel. Damit wuchs die Erfahrung, unerträgliche Arbeitssituationen wurden beendet. Erzählungen von Dienstbotinnen, die sich über ihre "Herrschaft" und deren affektierte und künstliche Lebensweise lustig machten, zeigen, daß die soziale Hierarchie nicht akzeptiert wurde. Viele Dienstbotinnen wehrten sich gegen die Form des "aufopferungsvollen Dienens für die Herrschaft", sie betonten dagegen, daß es für sie eine bezahlte Arbeit war und nicht mehr.
In Göttingen wurden mehrfach Polizeiordnungen erlassen, die verlangten, daß jeder Stellungswechsel eines Dienstmädchens innerhalb von 48 Stunden angezeigt wurde und die Dienstbücher dabei vorgezeigt werden mußten. Es finden sich immer wieder Beschwerden, daß Dienstmädchen ihre Dienstbücher nicht ordnungsgemäß führten, fälschten oder die Bücher verloren gingen. Wir schließen aus diesen Verordnungen, daß sich Dienstbotinnen der Kontrolle durch die Polizei immer wieder entzogen haben.
Ab Ende des 19. Jahrhunderts gab es Bemühungen, die Dienstbotinnen und Dienstboten gewerkschaftlich zu organisieren, die nicht erfolgreich waren. Die Arbeitsbedingungen, besonders die persönliche Abhängigkeit und die Vereinzelung standen diesen Bemühungen entgegen.