Mehr über das Gänseliesel

Geschichte des Gänseliesels

Schon im 18. Jahrhundert hatte es auf dem Marktplatz einen Brunnen gegeben. Er war mit einem Löwen geschmückt, vermutlich eine Anspielung darauf, daß die Nachfahren Heinrichs des Löwen Göttingen das Stadtrecht verliehen hatten. 1801 wurde der baufällig gewordene Löwe entfernt. Fast 100 Jahre bestand der Brunnen aus einer Fontäne mit Gitterzaun.
Aufgrund einer Beschwerde des 1894 gegründeten Göttinger Verschönerungsvereins schrieb der damalige Bürgermeister Calsow am 8. Februar 1898 einen Wettbewerb für einen neuen Brunnen aus, der in Künstlerkreisen ganz Deutschlands Beachtung fand. Auch eine Frau ließ sich die Teilnahmebedingungen schicken, die Göttingerin Frau Droysen.

46 Entwürfe wurden schließlich abgegeben. Den ersten Preis erhielt das Modell "Im Geist der Alten" der Frankfurter Bildhauer Mehs und Jehs. Der Entwurf stellte einen Brunnen mit Figuren und Wappen im Stil der wilhelminischen Gotik dar. Das Gänseliesel erhielt den zweiten Preis. Die Künstler Stöckhard und Nisse aus Berlin hatten dieses Modell eingereicht.
Zwei Kritikpunkte verhinderten, daß das Gänseliesel den ersten Preis bekam. Die Jury fand, daß das zierliche kleine Mädchen nicht zum "wuchtigen, ernsten" Rathaus passe. Außerdem sei der Baldachin, unter dem das Liesel steht, nicht standesgemäß für ein unbedeutendes Mädchen, da ein Baldachin Fürsten vorbehalten sei.
Die Bürger und Bürgerinnen der Stadt waren anderer Meinung. Sie hatten Gelegenheit, die ersten drei Preise im Saal der "Union", dem heutigen Jungen Theater, anzusehen. Davon machten sie offensichtlich Gebrauch. Es entwickelten sich heftige Diskussionen, die zum Teil in der "Göttinger Zeitung" dokumentiert sind. Am 16. Juli 1898 setzte sich z.B. jemand unter dem Pseudonym „- i -“ mit folgender Argumentation für das Gänseliesel ein:

"Wir haben in Göttingen ein Bürger-Denkmal, ein Wöhler-Denkmal, wir erhalten binnen kurzem ein Gauß-Weber-Denkmal, alle auf professörliche Anregung gesetzt, gute plastische Werke, bedeutenden Leuten zur Erinnerung, aber der Mehrzahl unserer Mitbürger mit Grund herzlich gleichgültig ... gerade auf den Markt sollte nur ein Werk zu stehen kommen,
daß zu J e d e r m a n n [Herv. im Text] spricht, und wer vermag das besser, als eine Figur von so volksthümlicher Poesie, wie das 'Gänsemädel'."
Göttinger Zeitung, 16.7.1898

Maßgeblich dafür, daß das Modell „Das Gänsemädchen“ auf dem Markt als Brunnen realisiert wurde, war der Einsatz des Göttinger Bildhauers Professor Dr. Hartzer. Er setzte sich bei Bürgermeister Calsow für  das Gänseliesel ein und entsprach somit auch dem Willen der Göttinger Bürger und Bürgerinnen. Am 14. März 1900 stimmte der Stadtrat der Realisierung des zweiten Preises, dem Gänseliesel, zu. Spenden Göttinger Bürger und Bürgerinnen machten es möglich, die Figur am 8. Juni 1901 aufzustellen.
Das Gänseliesel wurde nicht offiziell eingeweiht, was bei Denkmälern in Göttingen eigentlich üblich war. Nur eine kleine Zeitungsnotiz wies auf den neuen Brunnen hin.

"(Um eine neue „Mitbürgerin“ )ist unsere Stadt reicher geworden. Seit gestern hat sich nämlich das Gänselies’l auf dem neuen Marktbrunnen häuslich niedergelassen, wo es nun wohl Jahrhunderte hindurch als Wahrzeichen der Stadt Göttingen verbleiben wird. Der mächtige Rathaus-Coloß im Hintergrund, der umfangreiche Sockel, auf den man „Klein Lies’l“ gestellt hat, lassen seine Figur doch recht winzig erscheinen."
Göttinger Tageblatt 8. Juni 1901

Als offizielle Begründung für die fehlende Einweihung hieß es, das Schützenfest, das eine Woche später auf dem Marktplatz stattfand, sei Einweihung genug. Vermutlich steckte noch etwas anderes dahinter. Wir denken uns, daß zum einen der Stadtrat unzufrieden damit war, daß nicht der erste Preis als Brunnen auf dem Marktplatz realisiert werden konnte. Zum anderen könnte es sein, daß ein kleines, namentlich unbekanntes Mädchen als nicht bedeutend genug für eine offizielle Einweihung angesehen wurde.

Schon bald entstand der Brauch, daß jeder neu immatrikulierte Student auf den Brunnen kletterte, um das Gänseliesel zu küssen. Diese Sitte kann als Aufnahmeritus in die studentische Männergesellschaft gedeutet werden. (Frauen erhielten in Preußen und damit auch in Göttingen erst 1908 offiziellen Zugang zu den Universitäten.) Das Küssen war mit Aufläufen, Besäufnissen und dem entsprechendem Lärm verbunden.

Da die Studentenzahl während der Weimarer Republik beständig zunahm und alle das Liesel küssen wollten, sah die Polizei 1926 Ruhe und Ordnung gestört und erließ Kußverbot. Ein Überschreiter der Verordnung, der Student Graf Henckel von Donnersmarck, ging bis vor das Berliner Kammergericht. Dort versuchte er erfolglos, gegen die neue Verordnung anzugehen. Sie blieb weiter bestehen. Das Küssen wurde in der Folgezeit jedoch von der Polizei toleriert, solange es ohne ruhestörenden Lärm vonstatten ging.

Der Brauch des Küssens hat sich bis heute in etwas abgewandelter Form erhalten. Heute küssen keine Studenten des 1. Semesters, sondern Doktoranden und manchmal auch Doktorandinnen nach erfolgreicher Prüfung das Liesel.