Mehr über Mädchenbildung ...
Die Schule war den mittleren und gehobeneren Schichten offen. Um diesen Status aufrechtzuerhalten, wurden bereits 1 Jahr nach der Gründung die Gebühren erhöht. Die Schulleitung glaubte, daß viele Eltern aufgrund des geringen Schulgeldes dazu verleitet werden könnten, ihre Töchter auf diese Schule zu schicken. Wahrscheinlich wurde befürchtet, daß die Vermischung der Schichten eine Senkung des Niveaus zur Folge hätte.
Die Schule unterlag bald großen Veränderungen. Die Schülerinnenzahl, die zu Beginn 110 betrug, wuchs bis 1880 auf über das Doppelte, 222 Schülerinnen, an. Ein neues Gebäude mit mehr Räumen war deswegen vonnöten. Am 6. April 1880 wurde der seit längerem geplante Neubau Ecke Nikolaistraße/ Bürgerstraße eingeweiht. Die neue Schule hatte 11 Klassenzimmer, ein extra Physikzimmer, eine Aula, ein Lehrerinnenzimmer, ein Lehrerzimmer sowie eine Turnhalle. Die Zahl der Lehrenden nahm stetig zu, zudem änderte sich das Geschlechterverhältnis. Waren zur Zeit der Gründung noch weniger Lehrerinnen als Lehrer angestellt, lehrten um 1900 sieben Lehrer und acht Lehrerinnen.
Auch die Qualität der Schulbildung wurde innerhalb dieser Zeit erheblich verbessert. Die Schülerinnen besuchten die Schule vom 6. bis zum 14. Lebensjahr. Zur Zeit der Gründung waren sie auf fünf Klassenstufen plus eine Fortbildungsklasse verteilt. So wurden teilweise in einer Klasse zwei Jahrgänge gleichzeitig unterrichtet. Im Laufe der Jahre wurden die Klassenstufen erweitert und differenziert. Damit konnte auf den jeweiligen Wissensstand und das Alter der Schülerinnen gezielter eingegangen werden.
Dank des fortschrittlich denkenden Direktors Dr. L. Morgenstern war die Schule von modernen pädagogischen Ansätzen geprägt. Er lehnte eine Rangordnung, bei der gute Schülerinnen einen bevorzugten Sitzplatz, schlechte Schülerinnen z.B. den Platz direkt neben dem Ofen zugewiesen bekamen, entschieden ab. Er begründete dies mit der stets subjektiven Beurteilung durch die Lehrenden und der fehlenden Möglichkeit für schlechte Schülerinnen, sich noch nach einer derartigen Maßnahme zu verbessern. Des weiteren forderte er die Lehrenden auf, bei Teilnahmslosigkeit und Zerstreuung der Schülerinnen zunächst die Ursachen in sich selbst zu suchen. Auch das Schulgebäude und die Einrichtung waren nach modernen Gesichtspunkten erstellt. Es gab vier verschiedene Tisch- und Stuhlgrößen, die den Schülerinnen entsprechend ihrer Körpergröße zugewiesen wurden. Dies kam der Haltung und der Gesundheit der Schülerinnen zugute.
Die Zielsetzung dieser Mädchenschule und der Mädchenbildung allgemein läßt sich sehr gut anhand des Stundenplanes nachvollziehen. Insgesamt sollte die Bildung Herz und Verstand umfassen. Die Schulzeit sollte eine Erziehung für das Leben sein, wobei darunter die Vorbereitung des Mädchens auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter zu verstehen ist. Die Ausbildung an der höheren Töchterschule sollte sie dazu befähigen, ihrem Ehemann eine angenehme Gesprächspartnerin zu sein, ihren Kindern bei der Schulbildung unterstützend zur Seite zu stehen und einen bürgerlichen Haushalt leiten zu können. Meist ging der Unterricht über dieses Ziel nicht hinaus. So sollten zum Beispiel in dem Fach Chemie die "Grundbegriffe der Chemie und die für den Haushalt und das Gebiet weiblicher Thätigkeit besonders wichtigen chemischen Vorgänge" gelehrt werden.
Religion hatte innerhalb des Lehrplanes einen besonderen Stellenwert. Nicht nur das Fach selbst nahm an Stunden viel Raum ein, sondern die christliche Lehre wurde in beinahe allen anderen Fächern vermittelt. Zum Beispiel wurde in Deutsch anhand des Katechismus Lesen gelernt, in Singen wurden vorwiegend Choräle gesungen, und Geographie diente unter anderem dazu, die ‘Vollkommenheit des Schöpfers’ darzustellen. Nicht zu Unrecht bezeichnete deswegen Gertrud Bäumer, Mitglied der bürgerlichen Frauenbewegung, die damalige Mädchenbildung als einen "mittelbaren und unmittelbaren Religionsunterricht". Deutsch, Literatur, Französisch und Singen waren ebenfalls stark vertreten. Diese Fächer umfassen Kenntnisse, die dem bürgerlichen Frauenbild des 19. Jahrhunderts entsprechend von einer Frau erwartet wurden. Entgegen der sonstigen Auffassung an Mädchenschulen wurde auch besonderer Wert auf Rechnen gelegt. Mathemathik wurde an dieser Schule bewußt weit über die Anforderungen des zukünftigen Lebens einer Hausfrau vermittelt. Direktor Morgenstern begründete das damit, daß der mathematische Unterricht "neben diesem realen Zweck ein höheres, wichtigeres Ziel" [hat] [...]. "Er ist eine Gymnastik des Geistes, des Denkvermögens; er ist - richtig behandelt - ein Stück Logik, die das Kind an ein strenges Denken und Folgern gewöhnt" . Auch hier zeigt sich wieder der fortschrittliche Charakter der Schule, welcher der sonst weit verbreiteten Ansicht entgegensteht, Mädchen seien zu logischem Denken nicht fähig.
Handarbeit ist ein Fach, das nur auf Mädchenschulen gelehrt wurde. Die Schule war der Ansicht, daß "in der Fähigkeit und Gewandtheit für Hausarbeit ein wesentliches Stück der Berufsausbildung der Frau, ein wichtiges Mittel zur Erhaltung eines rechtlichen, ordentlichen Hauswesens"
liege. Handarbeiten wird als eine typische weibliche Arbeit dargestellt. Zum anderen wird verdeutlicht, daß die Schule den zukünftigen Beruf ihrer Schülerinnen im Haushalt sieht. Für die Schülerinnen bedeutete dies konzentriertes Stillsitzen beim Stricken von Socken, Häkeln eines Rockes, Kreuzsticken von Buchstaben, Flicken, Stopfen und so weiter. Ansonsten wurden noch die Fächer Weltkunde, Naturgeschichte, Physik, Geschichte, Englisch, Zeichnen und Schönschreiben unterrichtet. Gänzlich fehlt die Vermittlung von klassischen Sprachen, d.h. Latein, Altgriechisch und Hebräisch.
Ein Ausgleich zu der geistigen Tätigkeit bildete das Turnen, ein Fach, das um 1900 in Mädchenschulen erst im Kommen war. Es wurde Frauen und Mädchen in der Turnstunde zugestanden, sich frei zu bewegen und zu schwitzen. Der Turnunterricht bestand vor allem aus Gymnastikübungen und Spielen wie Seillaufen, Seilspringen, Federballspiel und Fuchsspiel. 1881 durften von 227 Schülerinnen nur 130 teilnehmen. Es ist anzunehmen, daß die Eltern noch Vorbehalte gegen dieses Fach für Mädchen hatten.
Eine bedeutende Lehrerin, Sophie Mejer, war 35 Jahre lang, von 1868-1903, an dieser Schule tätig. Dank eines neunmonatigen Aufenthalts in Paris zeichnete sie sich vor allem durch hervorragende Französischkenntnisse aus. Entgegen der Regel, nach der Lehrerinnen nur in der Unter- und Mittelstufe unterrichten durften, lehrte sie deshalb auch in der Oberstufe. Als 1894 diese Beschränkung aufgehoben wurde, übernahm sie die Leitung der Oberlehrerinnenkurse, in denen Lehrerinnen die Qualifikation zum Unterrichten in der Oberstufe erwerben konnten. Neben ihrer Tätigkeit an der Mädchenschule war sie sehr stark im "Verein Christlicher Lehrerinnen" engagiert. Dieser Verein bot Lehrerinnen eine finanzielle Absicherung bei Krankheit und Arbeitslosigkeit. Für alleinstehende, ältere Lehrerinnen gab es die Möglichkeit, in dem 1895 fertiggestellten Altenheim des Vereins unterzukommen, dem sogenannten Feierabendhaus.
1908 wurden Frauen in Preußen, zu dem Göttingen seit 1866 gehörte, erstmals zum Studium zugelassen. Den Schülerinnen brachte dies allerdings wenig, da das Ende des Schulbesuchs keine Abiturprüfung vorsah und die Schulausbildung im Alter von 15 Jahren beendet war. Der 1904 gegründete Göttinger Verein “Frauenbildung - Frauenstudium” bot jedoch ab 1911 einen vierjährigen Oberstufenunterricht mit anschließender Abiturprüfung an. Dieser Verein bestand bis 1924 fort und brachte in dieser Zeit insgesamt 68 Schülerinnen zum Abitur. 1913 zog die Schule in den Neubau im Friedländer Weg 19, das heutige Hainberg-Gymnasium um. Erst 1927 erhielt die Schule die Anerkennung als Gymnasium und ermöglichte die Ablegung einer Abiturprüfung. Die Schule bestand bis 1971 als Mädchenschule fort.