Die Geschichtswerkstatt Göttingen

Als die Geschichtswerkstatt Göttingen und zahlreiche andere lokale Geschichtsinitiativen mit dem Anspruch einer "neuen Geschichtsbewegung" vor nunmehr über zehn Jahren an die Öffentlichkeit traten, geschah dies aus einem gesellschaftskritischen Antrieb heraus. Als Teil der Neuen Sozialen Bewegungen (Friedens-, Anti-AKW-, Frauen- und Ökologiebewegung) wollten sie einer demokratischen "Geschichte von unten" zum Durchbruch verhelfen.

"In einem geschichtslosen Land", hatte der konservative Historiker und Kanzlerberater Michael Stürmer gesagt, "gewinnt die Zukunft, wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet." Dieses Terrain wollte die neue Geschichtsbewegung nicht den Nationalkonservativen und anderen Rechten überlassen. Dem "rechten Gramscianismus" eines Michael Stürmers und der einseitigen reaktionären Instrumentalisierung von historischer Forschung versuchen die Geschichtswerkstätten eine basisdemokratische, auf die direkten Lebensumwelten der Menschen und ihrer Erfahrungen konzentrierte Geschichtsarbeit entgegenzusetzen. Für diesen Versuch steht der Begriff der lokal und regional orientierten Alltagsgeschichte. Beeinflußt von Sven Lindqvists Aufruf: "Grabe wo Du stehst" sollte jeder und jede über und durch die gemeinsame Arbeit in den Geschichtswerkstätten in die Lage versetzt werden, die eigene Geschichte zu entdecken.

Historische Forschung soll dem alleinigen Zugriff von akademischen Experten entzogen werden. Wissenschaftskritik war also von Beginn an eine entscheidende Motivation für die Arbeit der Geschichtswerkstätten. Gegen eine zunehmend in der Analyse sozialer Strukturen und Prozeße erstarrende Sozialgeschichte setzen Geschichtswerkstätten verstärkt eine Erfahrungsgeschichte. Die Erfahrungen von Menschen, ihre Sicht auf die vermeintlich großen Prozeße und eben auch ihre Teilhabe an Macht, Herrschaft und historischen Ereignissen soll im lokalen Raum sichtbar und hörbar gemacht werden. Die soziale Basis individuellen wie kollektiven Handeln soll dargestellt werden.

Was verbirgt sich also im konkreten lokalen Beispiel hinter den zahlreichen Prozeßen
und Ereignissen?

  • Arisierung im Deutschen Faschismus fand auch in Göttingen statt.
  • Wer waren die Göttinger JüdInnen und was ist aus Ihnen geworden.
  • Arbeiterleben läßt sich am Beispiel des ehemals größten Arbeitsgebers der Stadt, dem Lokomotivausbesserungswerk (der "Lokhalle"), eindringlich veranschaulichen.
  • Arbeits- und Konzentrationslager waren nicht in unerreichbarer Ferne den Menschen und ihrer Wahrnehmung entzogen, sie sind in der unmittelbaren Umgebung Göttingens (Frauen- und Jugend-KZ Moringen, KZ Mittelbau-Dora) zu finden.
  • "Flüchtlinge" und "Vertriebene" wurden nicht irgendwo 'integriert', sondern in dieser Stadt.

Metaprozeße bekommen vor Ort ein anderes Gesicht. Menschen, ihr Handeln und ihre Erfahrungen werden "sichtbar". Sichtbar werden dann auch Kontinuitäten, Widersprüche wie Brüche, die TrägerInnen sozialer Lasten treten aus dem Schatten der vermeindlich "Großen" und "Mächtigen". Leer- und Blindstellen in der Geschichte der Stadt und der Region werden sichtbar. Der Widerstand Einzelner und kleinerer Gruppen, aber auch das Hinnehmen und Mitmachen der Vielen werden sichtbar. Wie versuchen wir diese Ansprüche in Bezug auf Göttingen umzusetzen?

Die Umsetzung dieser programmatischen Forderungen in konkrete inhaltliche Geschichtsarbeit erfolgte beispielsweise im Rahmen folgender Projekte:

  • Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte
  • Der Müll verläßt die Stadt. Die Stadt Göttingen und ihre Abfälle vom Mittelalter bis heute."
  • Die Geschichte des "Verdrängen und Verschweigens" nach 1945 in Göttingen.
  • Frauenleben in Göttingen im 18. und 19 Jahrhundert.
  • Das Extrablatt für Göttingen und Umgebung zum Tag der Befreiung zum 8.Mai 1945/95.
  • Der 27. Januar als 'Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus'
  • Angeworben - Eingewandert - Abgeschoben. Ein anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland
  • Aufbau eines Regionalarchivs der "Neuen Sozialen Bewegungen"

Zum praktischen Vorgehen

Didaktisch erscheint es uns wichtig den gängigen Vermittlungsweg: WissenschaftlerInnen beschriften viel Papier mit noch mehr kleinen schwarzen Buchstaben und RezipientInnen - außer einem kleinen autistischen Wissenschaftskreis - lesen es nicht, zu durchbrechen. Andere Vermittlungswege wie: Stadtrundgänge, Ausstellungen, Filme, historische Workshops, Vortragsreihen oder Geschichtsfeste sollen Geschichte direkter und interessanter zu den vor Ort lebenden Menschen bringen, sie an der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte beteiligen. Abschließend noch dies Wir verstehen unsere Arbeit nicht als historische Forschung am Vergangenen, Abgeschlossenen. Unser Verständnis von historischer Forschung und historischer Bildung zwingt zur Bennenung des gesellschaftlichen Kontextes und zeigt aktuelle politische Optionen auf. Denn: Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft besteht mehr denn je darin, den historischen kritischen Blick auf Herrschaftsverhältnisse mit der Frage nach den Bedingungen für soziale Veränderungen zu verbinden. Wer mehr über die Geschichtswerkstatt Göttingen erfahren möchte, der rufe uns an (Tel.: 50 76 45 54), lese unsere Veröffentlichungen, gehe zu Stadtrundgängen oder arbeite in einer aktuellen AG mit. Wir zählen leider nicht Legionen und freuen uns über neue Leute, die Lust haben mitzuarbeiten - Berührungsängste bestehen hoffentlich nicht.