An die Leserinnen und Leser

Ein Editorial

Das "Extrablatt" vom 8. Mai 1945 erscheint 50 Jahre später - im Mai 1995. Es ist nicht bei Notbeleuchtung, unter Papiermangel und ohne ausreichende Druckerschwärze, sondern in den zurückliegenden Monaten des Jahres 1995 konzipiert und erstellt worden.

Diese Zeitung ist ein Stück bewußter Fiktion. Weder am 8. Mai 1945 noch kurz davor oder danach, ist in Göttingen eine Zeitung erschienen (das Göttinger Tageblatt erschien zuletzt 1943 und erst ab 1949 wieder) Am 11. April 1945, drei Tage nach der Befreiung Göttingens, erging ein Verbot aller Zeitungen und Publikationen; ab dem 20. April ließ die US-amerikanische Militärbehörde das "Göttinger Mitteilungsblatt" herausgeben - die einzige publizistische Veröffentlichung dieser Zeit. Zwar beantragte Franz Arnold, ehemal. Vorsitzender des Deutschen Metallarbeiterverbandes, am 12. Mai, eine demokratische, anti-nationalsozialistische Zeitung zu erstellen. Doch Oberbürgermeister Schmidt ließ Arnold kurze Zeit später durch die Militärregierung mitteilen, daß eine solche Zeitung nicht herausgegeben werden dürfe.

Wie könnte eine Lokalzeitung ausgesehen haben, die für einen konsequent demokratischen und antifaschistischen Neuanfang steht? Das "Extrablatt" ist der Versuch, diese historische Lücke nachträglich zu schließen.

Die Idee dieser Zeitung ist, die Möglichkeiten der historischen Situation am 8. Mai zu entfalten. Uns interessiert die Offenheit der Situation im Mai 1945: Forderungen von AntifaschistInnen nach einem befreiten Leben und konsequenter Entnazifizierung, Vorstellungen von einer künftigen Gesellschaft in Frieden und sozialer Gerechtigkeit - eben jene Konzepte, die später nur bruchstückhaft umgesetzt wurden.

Die Zeitung hält zahlreiche Momentaufnahmen vom Zeitpunkt der Zerschlagung der Naziherrschaft fest. Neben den Belangen des Alltags erscheint es uns wichtig, NS-Verbrechen in Göttingen und anderswo zu dokumentieren. Der Schwerpunkt liegt auf der Wiedergabe der Erlebnisse und Meinungen von Verfolgten, Opfern und GegnerInnenn des Nazi-Faschismus und den Menschen, die erkannt haben, daß nur eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft ein Wiederaufleben faschistischer und kriegstreiberischer Tendenzen verhindern kann. Hierfür haben wir bewußt das Mittel der Fiktion gewählt: Viele Artikel geben vor, in der Situation um den 8. Mai 1945 geschrieben worden zu sein - tatsächlich ist kaum einer wirklich damals erschienen.

Schon Heinrich Heine wußte, daß das Volk seine Geschichte lieber aus dem Munde des Dichters als aus dem des Fachprofessors entgegennehmen will. Durch diese Art der "realistischen Fiktion" werden unseres Erachtens die Möglichkeiten erweitert, mit der Vergangenheit und den Deutungsangeboten über sie umzugehen. (Eine Aufstellung der Artikel mit fiktionalem Charakter findet sich am Ende der Zeitung.)

Die meisten Artikel behandeln Themen, die auch nach 1945 nicht an Brisanz verloren bzw. diese erst in der Zeit danach gewinnen. Diese Beiträge sind mit einem gekennzeichnet; die Nachträge finden sich, zusammen mit den jeweiligen Quellen- und Literaturangaben, ebenfalls im hinteren Teil der Zeitung.

Im Ganzen ist das breite Spektrum an historischen Quellen, persönlichen Erinnerungen, Zusammenfassung von Forschungsergebnissen und Interviews mit ZeitzeugInnen der Versuch, der Vielschichtigkeit des Datums "8. Mai 1945" gerecht zu werden. Das "Extrablatt" ist allerdings keineswegs auf politische Ausgewogenheit bedacht, sondern betont linke, antifaschistische, emanzipatorische Positionen - auch wenn ihre Zahl und ihr Einfluß tatsächlich eher gering waren. Diese Perspektiven hervorzuheben, ist für uns eine Möglichkeit, die Erinnerung an eigene Traditionen wachzuhalten, zu reflektieren und in heutige politische Handlungsweisen einzubinden. Viele Menschen konnten einen wirklich demokratisch-antifaschistischen Neuanfang nicht mitgestalten, weil sie den Nazi-Faschismus nicht überlebten. Ihre Stimmen verstummten, aber die Erinnerung an sie lebt weiter.

Mit dem "Extrablatt" will die Redaktion in der heutigen Diskussion um den "Tag der Befreiung" klar Position beziehen. Ein Standpunkt ist dabei, TäterInnen, ebenso wie das Mitmachen und Hinnehmen in Göttingen wie jenseits der Stadtgrenzen klar zu benennen. Durch die 50 Jahre geübte Praxis des Verdrängens und Verschweigens - gerade auch auf lokaler Ebene - scheinen die "Schuldigen" immer mehr zu verschwinden. Demgegenüber wird die Zahl der "Opfer" immer größer - nur daß diese Opfer nicht zu den Verfolgten des Nazi-Regimes gehören, sondern als Opfer von Gewalttaten der Alliierten für deutsche "Vergangenheitsbewältigung" herhalten müssen.

Diese Zeitung ist ein Kooperationsprojekt mit der Landesarbeitsgemeinschaft sozio-kultureller Zentren (LAGS), für deren finanzielle Förderung wir an dieser Stelle danken möchten. Darüber hinaus gilt unser Dank besonders den AutorInnen und ZeitzeugInnen, sowie allen, die diese Zeitung durch persönliche oder technische Mitarbeit und solidarische Unterstützung ermöglicht haben.

Wer unsere Arbeit auch in Zukunft unterstützen möchte, der/die sei freundlichst auf die Spendenvordrucke (göttinger Drucksache, Geschichtswerkstatt) und die Beitrittserklärung (Geschichtswerkstatt) auf Seite hingewiesen.

Da die Texte von einer Vielzahl von AutorInnen stammen, sind sie vielfältig und uneinheitlich. Das Extrablatt ist das Produkt eines sozialen Prozesses.

Wir widmen diese Zeitung den Verfolgten und GegnerInnen des deutschen Faschismus.

[zurück] [weiter] [grafische Übersicht] [Inhalt] [Seite drucken] [Fenster schließen]