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Bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Tätigkeit der Hebammen durch die Hebammenverordnungen, die in vielen Städten erlassen wurden, wesentlich eingeschränkt. Bislang hatte die Geburtshilfe und Frauenheilkunde hauptsächlich in den Händen der Hebammen und sogenannten weisen Frauen gelegen. ( Unter weisen Frauen sind erfahrene Laiinnen zu verstehen, die als Nachbarinnen anderen Frauen bei der Geburt geholfen haben.)
Die Verordnungen regelten, welche Maßnahmen die Hebammen während der Geburt zu ergreifen hatten, stellten die Hebammen unter die Kontrolle des Stadtarztes und verlangten von der Hebamme die Präsenzpflicht. Das hieß, daß die Hebamme ihr Verlassen der Stadt und ihr Wiederkommen dem Stadtarzt melden mußte. Um die Unterwerfung unter diese Verordnung zu verdeutlichen, mußten die Hebammen auf sie schwören.

Auch in Göttingen beanspruchte der Leiter des Entbindungshauses Prof. Friedrich Benjamin Osiander die Geburtshilfe für sich und diffamierte im Zuge dessen die in der Stadt ansässigen Hebammen. Der öffentliche Disput zwischen Osiander und der Stadthebamme Catherine Margareta Klocke zeugt davon. Osiander warf der Hebamme vor, an dem Tod einer Frau, bei deren Entbindung beide anwesend waren, durch zu langes Abwarten schuld zu sein. In ihrer „Verteidigung gegen einige Beschuldigungen des Herrn Professors Osiander“ gibt Frau Klocke im Gegenzug Osianders schnelles Eingreifen als Ursache für den Tod der Frau an.

Der Streit verdeutlicht die Gegensätzlichkeit der geburtshilflichen Technik sogenannter Buchmediziner aus Göttingen einerseits und der Hebammen andererseits, was hier kurz skizziert werden soll: Die Geburtshilfe der akademischen Mediziner in Göttingen war geprägt durch das Bestreben, Instrumente zu deren Erprobung einzusetzen und damit den Geburtsvorgang zu beschleunigen. Wenn die Mediziner es für nötig hielten, geschah dies auch gegen den Willen der Frau. Im Gegensatz zu den Hebammen verfügten sie zu der Zeit über wenig Erfahrung in der Geburtshilfe. Die Hebammen verhielten sich eher abwartend und hatten meist eine persönliche Beziehung zu der Gebärenden.

Hauptziel und Zweck des Entbindungshauses war, die Forschung voranzutreiben und die Medizinstudenten Göttingens auszubilden. Eine untergeordnete Aufgabe sollte die Ausbildung der Hebammen sein, und zuletzt sollte armen ledigen Frauen eine Möglichkeit zu entbinden gegeben werden. Eine Äußerung Osianders untermauert diese von uns aufgestellte Rangordnung:

„Es sey daher sehr unrichtig geurteilt, wenn mann glaubt, diess Haus sey der unehelich-schwangeren wegen da. Mit nichten! Die Schwangeren, sie seyen hernach verehelichte oder unverehelichte, sind der Lehranstalt halber da.“

Aufgenommen wurden Frauen unabhängig davon, ob sie verheiratet waren oder nicht, aus welcher gesellschaftlichen Schicht sie kamen, ob sie aus Göttingen kamen oder nicht. Osiander gab sich tolerant:

„Zur Aufnahme in dieses Institut ist ...jede Schwangere, Verheuratete und Unverheuratete, Inländerin und Ausländerin (nicht aus dem Kurfürstentum Hannover stammende Frauen, die Verf.), Christin und Jüdin, Weiße und Negerin fähig.“

Jedoch bezeichnete er ledig Schwangere aus der Unterschicht auch als „Öffentliche Dirnen und alle liederlichen Weibspersonen unter sich“ , bezichtigte sie der „wollüstigen Lebensart“ und sprach ihnen jegliches mütterliche Gefühl ab. Im Zusammenhang damit wäre zu erwähnen, daß seine Patientinnen überwiegend aus der Unterschicht stammten und daß sie größtenteils ledig waren. Nicht nur der Ruf als Haus der „gefallenen Mädchen“, zu dem Osiander wesentlich beitrug, schadete dem Ansehen der Institution bei den Frauen. Es hatte sich herumgesprochen, daß bei den Geburten dort viele Frauen und Kinder starben, wovon heute noch das „Osiandersche Cabinet“ zeugt: Die in Weingeist eingelegten Säuglinge und Körperteile von Frauen verhalfen Osiander zu mehr Ruhm als seine geglückten Geburten. Viele Frauen schreckte die Vorstellung ab, sich vor Osiander und seinen ausschließlich männlichen Studenten entblößen zu müssen. Frauen, die eine Hebamme bezahlen konnten, entbanden zu Hause.

Für die mittellosen Frauen bot das Haus Anreize, da es in den Anfängen der Entbindungsanstalt schwierig war, Patientinnen zu bekommen: Eine Frau konnte bis zu sechs Wochen vor der Geburt aufgenommen werden. Sie wurde dann kostenlos verpflegt und in einem Zwei-Bett-Zimmer untergebracht, was für Frauen aus der Unterschicht ein ungewöhnlicher Komfort war. Sie mußten im Gegenzug nur leichte Arbeiten wie Spinnen und Weben für den Hausbedarf verrichten. Für die Unterbringung im städtischen Armenhaus mußte hingegen körperlich hart gearbeitet werden. Normalerweise mußten Frauen, die ledig schwanger waren, vor der versammelten Gemeinde Buße tun, was zudem noch sehr viel Geld kostete. Das Entbindungshaus bot jeder Frau, die dort entbunden hatte, eine kostenlose und anonyme Kirchenbuße an. Konnte die Frau ihr Kind nicht versorgen, übernahm das Haus die Kosten für eine Unterbringung im Städtischen Waisenhaus.

Es entsteht zum Teil der Eindruck, das Entbindungshaus sei eine Wohlfahrtseinrichtung für arme ledige Schwangere gewesen. Von den Frauen, die dort soziale Leistungen in Anspruch nahmen, wurde jedoch im Gegenzug verlangt, daß sie sich, ohne als Person respektiert zu werden, den Studien der Mediziner zur Verfügung stellten. Die Frauen betraten das Haus durch einen Nebeneingang. Das prächtige Eingangsportal war Osiander, seiner Familie und den Studenten vorbehalten. Professor Osiander untersuchte sie im folgenden eingehend, befragte sie nach bestehenden und vergangenen Krankheiten und fragte, was besonders peinlich für die Frau war, nach dem Zeuger des Kindes. Bestand doch aufgrund der kleinstädtischen Strukturen die Möglichkeit, daß Osiander den Mann kannte. In den wenigsten Fällen gaben Frauen Namen an, wobei nicht mehr nachzuvollziehen ist, ob die wenigen Angaben, die gemacht wurden, der Wahrheit entsprachen. Alle Angaben der Frauen notierte Osiander akribisch in sein Forschungstagebuch. Bis zur Geburt wurde die Frau wiederholt untersucht. Zweimal in der Woche untersuchte Osiander  zu Lehrzwecken eine der Frauen vor allen Studenten.
Setzten die Geburtswehen ein, wurde eine Magd oder Hebammenschülerin losgeschickt, sämtliche Medizinstudenten der Stadt zusammenzurufen. Die 20-40 Studenten versammelten sich im Kreißsaal, wo die Frau schon entblößt mit einem Tuch über dem Gesicht lag. Die Anwesenheit der Männer wurde von den Frauen als entwürdigend empfunden, was Osianders Tagebucheintragung zum Ausdruck bringt:
Es sei „schon einige Male geschehen[...], daß Schwangere ihre Geburtsschmerzen so lange wie möglich verheimlichten, damit ja die Studierenden nicht mehr zu ihrer Niederkunft gerufen werden konnten.“
Osiander hielt deshalb die Hebammen an, die Frau genau zu beobachten, um „rechtzeitig“ die Wehen zu bemerken.

Im weiteren untersuchte Osiander die Frau und stufte den zu erwartenden Verlauf der Geburt nach seinen drei Kategorien ein:

  1. “Komplizierte“ Geburt
    Osiander diagnostizierte sie in 40% der Fälle (1792-1822) und führte sie selbst mit Hilfe der Zange durch
  2. „Mittelschwere“ Geburt
    Sie durfte von einem Studenten mit etwas  Erfahrung am Phantom durchgeführt werden. Als Phantome wurden von den Studenten  auch tote in Weingeist eingelegte Säuglinge benutzt!
  3. „Normale“ Geburt
    Sie wurde den Hebammen überlassen.

Angesichts der Ausrichtung des Hauses als Forschungsinstitut war der Anteil der als „normal“ eingestuften Geburten außerordentlich gering. Osiander wurde zu seiner Zeit von Kollegen aus Wien für den häufigen Einsatz von Geburtszangen kritisiert. Während Osiander von 1792-1822  40% aller Geburten mit der Zange durchführte, wurden in der Wiener Entbindungsanstalt im gleichen Zeitraum nur 1% der Geburten mit Hilfe der Zange vollzogen.

Auch die Zeitgenossin Charlotte Heidenreich von Siebold kritisierte Osianders häufigen Einsatz von Geburtszangen. Sie hatte 1811 als erste Frau bei Osiander in Göttingen angefangen, Medizin zu studieren. Osiander war zunächst nicht bereit gewesen, sie zu unterrichten, da er dagegen war, daß Frauen studierten. Letztendlich fühlte er sich jedoch gegenüber Charlottes Vater, dem renommierten Gynäkologen von Siebold, verpflichtet. Osiander erkannte sie als „fleißige und geschickte Schülerin“ an, und so bekam sie von ihm und seinen Kollegen ein gutes Abschlußzeugnis. Sie absolvierte 1814 in Darmstadt noch eine weitere Prüfung und konnte sich dann als erste studierte Frauenärztin Deutschlands dort niederlassen. Ihre Mutter war ebenfalls niedergelassene Frauenärztin, allerdings ohne einen akademischen Abschluß zu haben. 1817 promovierte Charlotte von Siebold, wieder mit einer Sondergenehmigung , die ihr Vater für sie erwirkt hatte, an der Universität Gießen. Ihre Doktorinarbeit, in der sie die zurückhaltende Anwendung der Geburtszange empfahl, schickte sie dann Osiander. Dieser fühlte sich angegriffen und in seiner Eitelkeit verletzt und sparte nicht mit frauenfeindlichen Äußerungen:
„Sie giebt einen klaren Beweis ab, wie weit sie schon von m[einen] Lehrsätzen abgewichen ist, und ich kann nicht stolzseyn, sie gebildet zu haben, [...]; denn ich glaubte nie, daß beim Unterricht Charakterloser Weiber und Mädchen viel Erfreuliches herauskomme[...] Das Schwangerwerden steht ihnen auf jeden Fall besser an, als über Schwangerschaften zu schreiben[...]“

Charlotte Heidenreich von Siebold wurde jedoch eine anerkannte Gynäkologin. Sie wurde in renommierte Fürstenhäuser zur Entbindung gerufen. Das berühmteste Baby, das sie 1819 auf die Welt holte, war wohl die spätere Queen Victoria von England.
Ihr Hauptinteresse galt jedoch der Armenfürsorge. Sie behandelte mittellose Frauen kostenlos und setzte sich zudem für die Verbesserung der Lage armer, zumeist lediger Frauen ein.