Mehr über Fabrikarbeiterinnen

Gegen den Widerstand anderer Göttinger Tuchmacher entwickelte sich die Firma Levin bald zum größten Unternehmen der Stadt. Levin konnte nämlich bereits 1846, neun Jahre nach der Gründung, das verfallene Fabrikgelände der Firma Grätzel in der Grätzelstraße in Grone ersteigern. (Dieses Gelände befand sich damals weit außerhalb Göttingens, das Dorf Grone wurde erst 1964 eingemeindet.) Schon bald wurde es zu einer modernen Tuchfabrik umgebaut. Heute ist diese Entwicklung noch an den Straßennamen abzulesen: an der Grätzelstraße befinden sich der Levinpark und die Levinstraße. Auch einige Fabrikgebäude und herrschaftliche Häuser sind noch erhalten. Die wenigen Handwebstühle, die in der Gründungszeit der Firma benutzt wurden, wurden bald durch mechanische Webstühle ersetzt. Die Wasserkraft der Grone wurde für den Antrieb genutzt, in der Spinnerei in Rosdorf, die Hermann Levin von seinem Schwiegervater erstand, leistete diesen Dienst der Fluß Rase. Den wirtschaftlichen Höhepunkt erreichte die Firma 1912. Allein im Gebiet Grätzelstraße gab es zu dieser Zeit etwa 80 Haupt- und Nebengebäude und 210 Maschinenwebstühle, die nun nicht mehr mit Wasserkraft, sondern mit Dampf betrieben wurden. Ungefähr 400 Arbeiter und 250 Arbeiterinnen waren bei der Firma beschäftigt, der Frauenanteil lag somit bei knapp 40%.

Die Arbeitszeit betrug 56 Stunden pro Woche für Männer, Frauen arbeiteten samstags 1/2 Stunde weniger, also 55,5 Stunden. Obwohl Frauen meist die gleiche Arbeit wie Männer verrichteten, wurden sie wie Jugendliche bezahlt. Zu dieser Zeit betrug der übliche Lohn damit die Hälfte des Männer-Lohnes. Aber selbst die Männer lagen mit einem Jahreseinkommen von etwa 700 Mark (1905) deutlich unter der Armutsgrenze, da die Firma Levin im Vergleich zu anderen Göttinger Betrieben oder vergleichbaren Betrieben in anderen Gebieten sehr wenig zahlte. In den unteren Bevölkerungsschichten mußten deshalb alle Familienmitglieder zur Versorgung beitragen. Frauen, Männer und oft auch Kinder gingen in den Fabriken arbeiten. Dennoch war die Armut groß, Kartoffeln und Brot waren die Hauptnahrungsmittel. Aus diesem Grund bewirtschafteten viele mittellose Familien etwas Land. Und auch die Firma Levin machte sich diesen Bedarf zunutze. Sie verpachtete Land an fast 1/3 ihrer Arbeiter und Arbeiterinnen. Für die Familien bedeutete dies zwar Mehrarbeit, aber auch eine Aufbesserung des Speisezettels. Die Firma zog einen wesentlich größeren Nutzen daraus. Mit diesem Land gelang es ihr, die Arbeiter und Arbeiterinnen an die Fabrik zu binden und gut angelernte Kräfte zu halten. Das Bebauen eines "eigenen" Stückes Land hinderte die Menschen daran, zu besser bezahlenden Fabriken zu wechseln. Wer wollte dieses Land für eine andere Arbeit aufgeben? Auch auf dem sozialen Gebiet gab es eine Reihe von Maßnahmen, die sicherlich zur Betriebsgebundenheit der Arbeiter und Arbeiterinnen beigetragen haben. Hier ist insbesondere die Rolle Marie Levins hervorzuheben, die nach dem Tod ihres Mannes Ferdinand Levin (dem Sohn des Firmengründers) von 1901 bis 1905 die Fabrik leitete. Sie ließ in den Jahren 1902/1903 das "Wohlfahrtshaus" erbauen, heute Levinstraße 11. Hier waren eine Speiseanstalt, eine Haushaltungsschule und eine Mütterberatungsstelle untergebracht. Ebenso die dortige Ausgabestelle für verbilligte Lebensmittel, die durch die Firma in großen Mengen eingekauft wurden, und die Witwenkasse waren für die weiblichen Beschäftigten und die Ehefrauen der männlichen Arbeiter von großer Bedeutung.

Wie die Landverpachtung sind diese betrieblichen, vorwiegend auf die weiblichen Fabrikangehörigen zielenden Einrichtungen zwiespältig zu beurteilen. Einerseits handelte es sich um konkrete Erleichterungen für die Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen, andererseits dienten sie dazu, eine Art Ausgleich für die niedrigen Löhne zu schaffen. Dieser Ausgleich sollte die Arbeiter und Arbeiterinnen leistungsfähig halten. Gleichzeitig verbanden diese Einrichtungen die Männer und Frauen gefühlsmäßig mit der Firma und verhinderten ein Abwandern in besser bezahlende Fabriken. In einer Festschrift der Firma Levin von 1912 werden die Wohlfahrtseinrichtungen dann auch ganz offen als Produktionskostenersparnis bezeichnet. Das Konzept der Firmenleitung griff. Es gab bis 1919 keinen großen Streik in der Firma, während die Göttinger ArbeiterInnenbewegung in anderen Betrieben schon jahrelang für höhere Löhne und mehr Rechte kämpfte.